Wieder räumt Prof. Wolfgang Reichel – Vorstandsmitglied der DPG Bremen – mit Klischees und Vorurteilen auf. Diesmal geht es um Richard Wagner, den er als „europäischen Patrioten“ bezeichnet. In einer Zeit, in der es weder einen polnischen noch einen einheitlichen deutschen Staat gab, engagiert sich Wagner gemeinsam mit vielen anderen Deutschen für den Freiheitswillen der Polen und schreibt eine Konzertouvertüre „Polonia“.
Die vollkommen verschollenen Noten für die Klavierfassung zu finden, war ein Abenteuer für sich, aber nur wenige Pianisten können dieses Werk – so wie der Künstler Wojciech Wałeczek – dann auch interpretieren.
Prof. Reichel: „Und so sind wir heute Zeugen der bremischen Uraufführung der kompletten Klavierfassung der Konzertouvertüre „Polonia“ von Richard Wagner. Ich erlaube mir noch, Ihre Aufmerksamkeit auf die besondere musikalische Form zu lenken. Eben mit Hintergedanken! Anfangs hören wir eine düstere Melodie die in dissonante Akkorde übergeht. Ein Tönewüste! Polen unter Besatzung! Plötzlich, gewissermaßen aus dem Nichts: eine zarte Melodie im 3/8 Takt. Eine Mazurka! Die Mai-Mazurka! Witaj maj, trzeci maj! Willkommen Mai, dritter Mai! Sofort eine Reaktion, die die Melodie erstickt. Die Besatzungsmacht meldet sich zurück. Aber es gärt. Leise, aus dem pp entwickelt sich eine neue Kraft, die Musik lebt nur aus der Steigerung eines Themas. Es geht über p crescendo, also Steigerung zum f, dann ff und wieder crescendo zum ff piu f. Und plötzlich, aus diesem Chaos heraus erwächst ganz leise, wieder p und 3/8-Takt eine neue Mazurka, die Dabrowski-Mazurka, Mazurek Dąbrowskiego, eine Melodie, die knapp hundert Jahre später, genauer 1927, zur Nationalhymne des dann freien Polens werden wird. Auch diesmal wird sie unterdrückt. Und wieder eine lange Phase des Gärens, des Auf- und Ab bis eine neue Melodie triumphal ertönt; die Litwinka, die Hymne der litauischen Legionen aus Italien. Man muss wissen, dass bis zu den Teilungen Polen und Litauen einen gemeinsamen Staatsverband bildeten: Rzeczpospolita dwojga narodów, Republik zweier Nationen, also Polen und Litauen. Die verschiedenen Verbände, die in Westeuropa entstehen, kämpfen gemeinsam um die Befreiung Polens. Nun ist, zumindest musikalisch, der Sieg nicht mehr aufzuhalten. So endet das Werk, eher untypisch für Wagner, in triumphalen, gigantischen Akkorden. Zugleich lautet die Botschaft: die Kunst, in diesem Fall die Musik, hat Polen geholfen, die Identität zu bewahren.“
Allgewaltig und virtuos spielt Wojciech Wałeczek – ein außerordentlich talentierter und preisgekrönter Pianist aus Polen – auf dem Steinway-Flügel des Konzertsaales der Bremer Stadtwaage dieses Werk.
Doch jeden Moment seiner Darbietung, ob Chopin, Wagner oder Paderewski hätte man mit geschlossenen Augen am liebsten festgehalten. Am Ende wollte das musikverliebte Publikum den Künstler auch noch gar nicht gehen lassen. Wenn man bedenkt, dass das Konzert am 1. Advent stattfand, so war jedes der dargebotenen Stücke wie ein frühes Weihnachtsgeschenk.